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Eröffnungsrede v.d. 14. Bundesversammlung

Juli 2nd, 2010 · Keine Kommentare

bundestag

Der Präsident des Deutschen Bundestages, Prof. Norbert Lammert, hielt bei der Eröffnung der 14. Bundesversammlung (die durch den Rücktritt des Bundespräsidenten mit sofortiger Wirkung notwendig wurde) am 30.06.2010 im Reichstag in Berlin folgende Rede:

Meine Damen und Herren, seit der letzten Bundesversammlung ist gerade ein gutes Jahr vergangen; sie traf sich hier am 23. Mai 2009, auf den Tag genau 60 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes, der besten Verfassung, die wir Deutschen je hatten. Deshalb war die 13. Bundesversammlung in gewisser Weise auch eine Feierstunde der Demokratie und des Parlamentarismus. Gerade in den vergangenen Wochen und Monaten haben sich unsere Demokratie und das parlamentarische System auch bei unvorhersehbaren Herausforderungen als handlungsfähig erwiesen. Es ist eine wichtige Erfahrung, dass die Verfassungsorgane zu gemeinsamer Verantwortung bereit und in der Lage sind.

Auch der Rücktritt des Bundespräsidenten hat zwar manche Enttäuschung und einige Turbulenzen ausgelöst: alles andere als ein normaler Vorgang, aber keine Staatskrise.

Diese Bundesversammlung findet statt, weil der Bundespräsident sein Amt niedergelegt hat, mit sofortiger Wirkung – ein in der Geschichte der Bundesrepublik, ja sogar in der Demokratiegeschichte unseres Landes einmaliger Vorgang. Diese Entscheidung und ihre Gründe haben wir zu respektieren, auch wenn viele von uns sie noch immer nicht wirklich verstehen können. Die von ihm für unser Land geleistete Arbeit will ich am Freitag anläßlich der Vereidigung seines Nachfolgers / seiner Nachfolgerin in seiner Anwesenheit würdigen.

Doch auch für Ausnahmesituationen gibt es Vorkehrungen in der Verfassung – hier mit der Festlegung des Grundgesetzes, die Bundes­versammlung innerhalb von 30 Tagen einzuberufen. Der eine oder andere mag – wie ich – wegen der kurzen Fristen zunächst erschrocken gewesen sein, dennoch können wir den Architekten des Grundgesetzes dankbar sein für diese Regelung, die uns eine monatelange Diskussion um Wahltermin und Kandidaten erspart.

Der überraschende Amtsverzicht hat in der Öffentlichkeit manche Fragen aufgeworfen, die nach Antworten suchen, er hat zugleich eine Nachdenklichkeit erzeugt, die bei allen direkt und indirekt Beteiligten Anlass auch zur selbstkritischen Befassung mit ihrer eigenen Rolle und zum Umgang mit öffentlichen Ämtern gibt. Dies gilt für Amtsinhaber wie Bewerber, für politische Parteien, aber auch für die Medien.

Das Amt des Bundespräsidenten halten manche Kommentatoren für einen „besonderen Glücksfall“ unserer Verfassung, andere bezeichnen es als „das vielleicht schwierigste Amt, das in der Bundesrepublik zu vergeben ist“. Beides ist wohl richtig.

Die Erwartungen an den Bundespräsidenten hat die Präsidentin der 9. Bundesversammlung, Frau Professor Süssmuth, am 23. Mai 1989 folgendermaßen beschrieben: Der Bundespräsident habe die Aufgabe – Zitat – „durch sein Wort und Kraft seiner Persönlichkeit zu verdeutlichen, dass neben den geteilten Gewalten und unabhängig von den widerstreitenden Kräften in Regierung und Opposition in der Demokratie eine Basis der Gemeinsamkeit besteht, die alle verbindet. Deshalb kann und soll der Präsident klärend, versöhnend und friedensstiftend wirken. Er kann so Mittler im System der Gewaltenteilung sein.“ (Ende des Zitats)

„Mittler im System.“ Der Bundespräsident ist Teil des Verfassungsgefüges. Auch die Bundesversammlung ist ein Teil unseres politischen Systems.

Gewählt wird das Staatsoberhaupt nach Artikel 54 des Grundgesetzes von einer Versammlung, die nur zu diesem Zweck zusammentritt, und die durch ihre verfassungsmäßige Zusammensetzung die politischen Kräfteverhältnisse im Bund wie in den Ländern so aktuell und verlässlich wie möglich wiedergibt. Das war übrigens auch bei 13 bisherigen Bundesversammlungen nicht anders. Ebenso wie das freie Mandat für die Mitglieder des Bundestages wie die durch die Landtage gewählten Wahlmänner und –frauen, die an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind. Jede Bundesversammlung ist neu zusammengesetzt, für jede gelten die gleichen Prinzipien und Regeln.

In einigen westlichen Demokratien ist die staatliche Spitze durch eine erbliche Monarchie besetzt – mit dem durchaus beachtlichen Argument mancher Staatsrechtler, es sei klug, auch und gerade in einer Demokratie das Amt des Staatsoberhauptes dem Ehrgeiz der Parteien und gesellschaftlichen Gruppen zu entziehen und nicht der sonst unverzichtbaren Mehrheitsregel zu unterwerfen.

Das Grundgesetz hat sich für ein Wahlamt entschieden: der Bundespräsident wird gewählt. Das Amt des Staatsoberhauptes unterliegt damit denselben Regeln demokratischer Legitimation wie jedes andere öffentliche Amt.

Für alle demokratischen Wahlämter gilt: die Person prägt das Amt, aber sie geht nicht in ihm auf, so wenig wie das Amt sich durch den jeweiligen Amtsträger definiert. Mit diesem keineswegs banalen Spannungsverhältnis müssen der Amtsinhaber wie die Öffentlichkeit leben – beide tun sich damit nicht immer leicht.

Die Übernahme eines Amtes macht aus der Person keinen Würdenträger, aber mit der Annahme der Wahl eben mehr als eine Privatperson. Das hat Folgen für die Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben und Funktionen. Niemand muss öffentliche Ämter übernehmen; wer kandidiert und gewählt wird, übernimmt allerdings eine Verantwortung, die er mit all seiner Kraft, nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen hat.

Niemand von uns steht unter Denkmalschutz. Weder die Parlamente noch die Regierungen, nicht einmal das Staatsoberhaupt. Kritik muss sein. Aber den Anspruch auf „Wahrhaftigkeit und Respekt“ hat Bundespräsident Köhler zu Recht nicht nur für sich, sondern für die politische Kultur unseres Landes im Ganzen reklamiert.

Wir alle, die wir uns heute versammelt haben, gehören verschiedenen Parteien an, haben unterschiedliche Auffassungen zu wichtigen Themen, unterstützen verschiedene Kandidaten für öffentliche Ämter, aber wir teilen die gemeinsame Verantwortung für unser Land, die sich mit der Wahl eines Bundespräsidenten nicht erledigt. Schon gar nicht in schwierigen Zeiten, die wir jetzt haben, mit vielen Unsicherheiten und Ängsten, die keineswegs nur eingebildet sind.

Am 30. Juni 1990, es war der Vorabend der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, sagte der damalige DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière in einer Fernsehansprache: „Der Blick zurück ist ein Blick im Zorn. Der Blick nach vorn ist ein Blick mit Zuversicht und Hoffnung.“ Mit Ablauf dieses Tages, heute vor genau zwanzig Jahren, wurden die Grenzüberwachung und die Grenzkontrollen an der innerdeutschen Grenze eingestellt. Der Freiheitswille der Menschen hatte gesiegt. In einer friedlichen Revolution gegen politische Bevormundung und Entmündigung war es der Bürgerrechtsbewegung und am Ende hunderttausenden mutigen DDR-Bürgern gelungen, eine Diktatur zu stürzen.

Wenn wir im zwanzigsten Jahr der deutschen Einheit den zehnten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland wählen, dann können wir das mit großer Dankbarkeit, aber auch mit berechtigtem Stolz auf die Verfassung eines glücklichen Landes tun, das zu einer gefestigten Demokratie in Einheit und Freiheit geworden ist.

Tags: Autoren · politisch

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